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Das Reuchlinhaus  
   
   

In Zukunft Erinnerung - eine Zeitkapsel für das Reuchlinhaus
Kunstverein Pforzheim
22.10.21 - 22.10.22







Eine Ausstellung zum 60-jährigen Jubiläum des Reuchlinhauses

Am 22.10.21 wurde in einem Festakt das 60-jährige Jubiläum des Reuchlinhauses in Pforzheim gefeiert. Zum Jubiläum zeigte der im Reuchlinhaus ansässige Kunstverein in seinen Räumen die Ausstellung „Ich wollte nie eine Konstruktivistin sein! (Verschollene Collagen von Hannah Höch)“. Mehr zur Ausstellung kann man hier erfahren: ---->




Das Reuchlinhaus ohne Zeitkapsel

Beim Kuratieren der Ausstellung bemerkte Martin G. Schicht, dass das Reuchlinhaus keine Zeitkapsel erhalten hatte. Daher fertigte er für die Ausstellung ein Modell der Zeitkapsel an, die er dem Reuchlinhaus übergeben wollte. Daraus erwuchs das vorliegende Projekt, das von der Eröffnung der Jubiläumsausstellung bis zur Einlegung der Zeitkapsel genau ein Jahr später vollzog (22.10.21 - 22.10.22).




Manfred Lehmbruck und Mies van der Rohe

Das Reuchlinhaus mit seiner architektonischen Strahlfkraft wurde 1961 von Manfred Lehmbruck erbaut. Sein Vater Wilhelm Lehmbruck, für den er das Lehmbruckmuseum in Bielefeld erbaute, war gut befreundet mit Mies van der Rohe. Nach dem frühen Tod des Vaters wurde Manfred Lehmbruck Ziehsohn von Mies van der Rohe. Dessen architektonische Einfluss ist deutlich zu erkennen im Reuchlinhaus. Man könnte fast sagen, das Reuchlinhaus wirkt wie eine kleine Neue Nationalgalerie. Allerdings wurde sie sieben Jahre vor dieser erbaut. Und Mies van der Rohe legte dort eine Zeitkapsel ein - was im Reuchlinhaus nicht geschah. Das war Anlass genug für Martin G. Schicht, diesen Akt im Jubiläumsjahr des Reuchlinhauses nachzuholen.




Die Entwicklung einer Zeitkapsel zu den Jubiläen von Johannes Reuchlin und dem Reuchlinhaus

2022 wurde in Pforzheim des 500-jährigen Todesjahres des Humanisten Johannes Reuchlin gedacht. Im Reuchlinhaus fanden dazu verschiedene Veranstaltungen und Ausstellungen statt. Und auch die Zeitkapsel für das Reuchlinhaus sollte genau ein Jahr nach der Eröffnung der oben genannten Ausstellung am 22.10.22 im Rahmen einer rituellen Einlegung dem Gebäude übergeben werden. Damit wurde das Jubiläum des Reuchlinhauses in 2021 und das Jubiläum von Johannes Reuchlin in 2022 verbunden.




Der Inhalt der Zeitkapsel

Zeitkapseln sind attraktiv - doch ihr Inhalt oft nicht. Meistens werden Zeitungen, Münzen und aktuelle Gegenstände eingelegt. Was eine Zeitkapsel wirklich bedeuten könnte – dieses Potential wird meistens nicht ausgeschöpft. Erste Überlegungen fanden Eingang in dem Modell, das in der Jubiläumsausstellung 2021 gezeigt wurde. Die vorliegende Zeitkapsel besteht aus zwei Teilen. Diese Zeitkapsel ist eine Besonderheit, denn sie wird erst 60 Jahre nach dem Bau des Reuchlinhauses entwickelt und erst 500 Jahre nach Johannes Reuchlin eingelegt. Diese ungewöhnliche zeitliche Situation eröffnet hier auch ein besonderes Vorgehen, das zum Ziel hat, besondere Einlagen für die Zeitkapsel zu finden. Zum Bau der Zeitkapsel wurde der Berliner Künstler Wolfgang Flad beauftragt.




Der untere Teil der Zeitkapsel ist eine Kunstbatterie

Dieser Teil besteht aus zwei separierten Füllungen von Erde. Eine stammt aus dem Garten von Hannah Höch, eine aus dem Garten von Kurt Schwitters.

Martin G. Schicht hatte für die Ausstellung eine Decken-Bodenarbeit mit der Erde aus dem Garten von Hannah Höch entwickelt. Für Hannah Höch war der Garten ihres Hauses am Stadtrand für Berlin sehr wichtig. Denn sie verfügte über viele Werke von Künstler*innen der Vorkriegsavantgarde. Während der Nazizeit konnte sie nicht emigrieren und blieb in Berlin. Der heimliche Besitz dieser Arbeiten war lebensgefährlich für die von den Nazis als „entartet“ geführte Künstlerin. Daher vergrub sie diese in ihrem Garten. Der opulent gestaltete Garten bot ihr zudem Sicherheit bei ihrer künstlerischen Tätigkeit durch einen guten Sichtschutz.

Martin G. Schicht zeigte in der Ausstellung zudem ein Objekt, das in Beziehung zu dem Garten von Kurt Schwitters steht. Dieser hatte in den 20ern den sog. Merzbau entwickelt. In seinem Wohnhaus in Hannover wucherte eine Konvolut aus konstruktiven Einheiten dicht an dicht von Raum zu Raum. Der Merzbau gilt heute als Ikone der Vorkriegsmoderne. Im Krieg wurde das Gebäude allerdings durch ein Brandbombe vollständig zerstört. Schicht vermutete jedoch in der Erde des Gartens verkohlte Mikroreste des Merzbaus und entnahm daher Erde aus dem Garten des Hauses.

Hannah Höch und Kurt Schwitters waren sehr gut befreundet und standen jahrelang in sehr regem, künstlerischen Austausch. Sie haben sich nach den 30ern durch die politischen Umstände und den Krieg nie mehr wiedergesehen. Doch im Kunstwerk kommt es zu einer Zusammenkunft der Erden ihrer Gärten. Die Erde aus dem Garten von Hannah Höch und die Erde aus dem Garten von Kurt Schwitters sind in der Zeitkapsel nebeneinander geschüttet und durch einen Steg getrennt. Die Batterie wird aktiviert, indem der Steg herausgenommen wird und sich Erden beginnen zu mischen. Bei der rituellen Einlegung wurde dieser Prozess initiiert. Die Zusammenarbeit von Hannah Höch und Kurt Schwitters wird energetisch fortgesetzt.




Der obere Teil der Zeitkapsel ist mit Objekten der Bürger*innen der Stadt gefüllt

In einem demokratischen, öffentlichen Prozess wurden die Bürger*innen der Stadt aufgerufen, Objekte oder Dokumente zu entwickeln und beizusteuern, die sie zur Disposition stellen als Artefakte für die Zeitkapsel. Diese Vorschläge wurden online gestellt. Es wurde öffentlich darüber abgestimmt. Schliesslich erfolgte in einem Auswahlgremium noch eine engere Auswahl – denn der Platz in einer Zeitkapsel ist limitiert. Auf diese Weise wurden 84 Artefakte für die Zeitkapsel ausgewählt. Mehr zum demokratischen Entscheidungsprozess findet sich hier: ---->